Informationsfreiheit: „Die Regierung selbst hat kein Interesse an Transparenz“

Wer das Informationsfreiheitsgesetz nutzen will, sollte bei der Plattform „Frag den Staat“ vorbeischauen. Wir sprechen mit Arne Semsrott über Aktivismus, nachhaltige Erfolge, Olaf Scholz’ Haltung zu Transparenz und wie Ministerien Kampagnen für mehr Informationsfreiheit gegen die Wand fahren ließen.

symbolbild informationsfreiheit
Heute schon interessante Informationen geangelt? CC-BY-SA 2.0 Chris Isherwood

Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es nun das Transparenzportal „Frag den Staat“, und von Anfang an ist Arne Semsrott dabei. Die Website erlaubt es, Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) bequem von der Couch aus loszutreten, sozusagen Klicktivismus für mehr Transparenz – aber mit Anspruch, guter Benutzerführung und zumindest Erfolgsaussicht.

Elisa Lindinger, Elina Eickstädt und Constanze Kurz – das Team des Podcasts „Dicke Bretter“ – sprechen mit Arne Semsrott darüber, was sich in Sachen Transparenz verändert hat, seit Wolfgang Schmidt und Olaf Scholz das Bundeskanzleramt besiedelt haben. Seine Einschätzungen stellen der Ampel-Regierung kein gutes Zeugnis aus. Was ist die Bilanz bei den Verwaltungsgerichten, die in vielen Fällen angerufen werden müssen? Und wie wird es mit „Frag den Staat“ weitergehen?


Arne Semsrott ist Politikwissenschaftler und Aktivist für mehr Transparenz und arbeitet seit zehn Jahren bei der Informationsfreiheitsplattform Frag den Staat. Er engagiert sich auch beim Freiheitsfonds, einem Projekt, bei dem Menschen aus dem Gefängnis freigekauft werden und politisch für eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Ticket geworben wird. Mehrere Jahre hat er auch bei netzpolitik.org über Informationsfreiheit und Transparenz geschrieben.

Sein neues Buch heißt Machtübernahme – Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. Eine Anleitung zum Widerstand und wird am 3. Juni erscheinen.

Zwischen allen Stühlen

Arne Semsrott
Arne Semsrott.

Elina Eickstädt: Lieber Arne, was ist Informationsfreiheit?

Arne Semsrott: Informationsfreiheit ist das Recht auf Zugang zu Information. Es ist ein Grundrecht, ein Menschenrecht, das wir alle haben. Das ist in Deutschland und in anderen Ländern über Gesetze geregelt, die uns die Möglichkeit bieten, alle möglichen Informationen vom Staat zu holen. Es geht also um alles, was in Aktenschränken liegt und dort teilweise verkümmert. Das können wir besorgen oder wir können zumindest versuchen, es zu besorgen. Und das ist häufig ein ganz schöner Kampf.

Elina Eickstädt: Wo würdest du das Konzept von „Frag den Staat“ als Plattform für Personen, die aktivistisch tätig werden wollen, einordnen? Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz als Aktivismusmittel einzusetzen, ist ja eine neue Idee gewesen.

Arne Semsrott: Ich sehe „Frag den Staat“ als Organisation zwischen allen Stühlen: Sie ist ein mögliches Mittel für Aktivistinnen und für Organisationen, um Druck zu machen, sich Infos zu holen, sich bemerkbar zu machen und Kampagnen oder Vorhaben, die sie haben, zu verstärken.

Es gibt ja diese Informationsfreiheitsgesetze. Über die haben wir die Möglichkeit, Infos vom Staat zu bekommen. Dann ist aber die Frage: Wie kann man das in politischer Arbeit so einsetzen, dass es tatsächlich einen Unterschied macht?

Das offensichtlichste Beispiel: Ich hole mir eine Information, da steht irgendwas Krasses drin. Ein Referat im Innenministerium streitet sich zum Beispiel mit einem Referat im Justizministerium. Ich kriege das mit, weil ich alle E-Mails zwischen den beiden Häusern abfrage. Wenn ich das an die Öffentlichkeit gebe, kann ich vielleicht in einem Gesetzgebungsprozess Druck machen.

Aber es funktioniert auch ein bisschen subtiler. Wenn ich eine spezifische Anfrage stelle, gerade in laufenden Prozessen, dann merken die Behörden das und werden vielleicht achtgeben, was überhaupt in eine Akte reingeschrieben wird. Das heißt, das kann Prozesse ändern durch das Wissen, dass da jemand draufschaut.

Es gibt zudem zahlreiche Ausnahmetatbestände in Informationsfreiheitsgesetzen, sie sind überhaupt verbesserungswürdig. Aber auch wenn ich eine Ablehnung einer Anfrage bekommen, kann ich das für Kampagnen gut nutzen, denn ich kann dann sagen: Seht mal, die haben diesen Gesetzgebungsprozess, aber die geben die Infos nicht raus. Offensichtlich haben die was zu verbergen. Und man kann natürlich auch mit geschwärzten Akten gutes Campaigning machen. Es ist teilweise so, dass Infos, die sie nicht rausrücken, interessanter sind als Infos, die sie rausrücken.

Datenbestände freikriegen

Elisa Lindinger: Ich erinnere mich noch an meine erste IFG-Anfrage über „Frag den Staat“: Das war in der Kampagne „Topf Secret“. Das wäre ein drittes Beispiel, wie die Plattform wirkt: Da geht es weniger darum, eine parteipolitische Agenda zu haben oder quasi hoch aufgehängte Themen zu besetzen, sondern stärker darum, einen Datenbestand freizukriegen, der bisher nicht einsehbar war. Konkret ging es um die Gutachten von Gesundheitsämtern zu Restaurants, in die wir alle gern gehen und essen und vielleicht ganz gern wissen wollen würden, wie es in deren Küche aussieht. Solche Kampagnen habt ihr früher relativ oft gemacht und gefühlt wird das jetzt weniger. Täusche ich mich da?

Arne Semsrott: Nein, das stimmt. Bei „Topf Secret“ geht es um Lebensmittelkontrollberichte und ich glaube, was wir mit dieser Kampagne geschafft haben, ist das Zusammenfassen egoistischer Motive von einzelnen Leuten zu einer Kampagne mit einem höheren Ziel. Ich gehe beispielsweise in ein Restaurant, dann habe ich einen verdorbenen Magen. Dann will ich erstmal sehen: War das Hygieneamt eigentlich da? Vielleicht haben sie ja Hygieneprobleme gefunden.

Es haben jetzt etwa 60.000 Leute Lebensmittelkontrollberichte über die Plattform angefragt – aus ihren eigenen Motiven. Das zusammengenommen ergibt dann eine Kampagne für mehr Transparenz in dem Bereich. Denn wir können natürlich sehr gut sagen: Offensichtlich wollen so viele Leute das wissen, dann wäre es doch viel einfacher, diese Infos von sich aus zu veröffentlichen. Das war immer die Forderung, die wir mitkommuniziert haben.

Interviews

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Constanze Kurz: Die Kontrollberichte hängen oft auf Papier in den Ämtern, aber sie veröffentlichen sie nicht online.

Arne Semsrott: Ja, es kommt aber auf die Bundesländer an, die machen es unterschiedlich. Das Ziel, was man eigentlich haben will, ist ein bundesweites Gesetz, vielleicht ein Smiley-System, das draußen am Restaurant angebracht werden muss. Das wäre viel leichter für alle.

Man müsste dafür einen Prozess etablieren. Das ist natürlich schwierig, denn Prozesse etablieren ist immer eine große Pein. Letztlich haben die Verwaltungen und das Landwirtschaftsministerium gesagt: Nein, dann ballern sie uns halt mit tausenden Anträgen zu, das müssen jetzt die Ämter alle abarbeiten.

Wir können aber nun zu den einzelnen Ämtern hingehen und sagen: Macht doch bitte Druck beim Bundesministerium, damit sie Gesetze einführen, dann habt ihr diese Arbeit nicht mehr. Das heißt, man kann über einen klaren, letztlich ökonomischen Druck bei den Behörden dafür sorgen, dass die dann wiederum aus Eigeninteresse für eine Sache lobbyieren.

Komplett gegen die Wand fahren

Constanze Kurz: Wir beobachten die Projekte von „Frag den Staat“ schon länger und sind selber auch Nutzer der Plattform. Es gibt mittlerweile einen klaren „Pushback“, also Gegendruck für das Ansinnen nach mehr Informationsfreiheit. Aktuell gab es etwa ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das als ein Rückschritt bewertet werden kann. Hast du angesichts dieser Entwicklung noch dieselben aktivistischen Energien, sind sie sogar eher mehr oder strukturierter geworden? Wie siehst du deinen Aktivismus nach einem Jahrzehnt?

Arne Semsrott: Ich glaube, es hat sich ein bisschen verlagert. Ich bin auf jeden Fall deutlich pessimistischer in allem. Das ist gar nicht unbedingt schlimm, das macht die Arbeit vielleicht tatsächlich eher besser. Manchmal ist natürlich ein naives Herangehen super, weil man denkt, man kann es schaffen. Wenn einem vorher klar wäre, was für eine Arbeit das ist, dann würde man vielleicht gar nicht erst anfangen. Insofern ist Naivität auch immer ganz schön.

Aber gerade bei diesen Kampagnen, die Elisa ansprach, sind es deswegen weniger geworden, weil wir mit der letzten Kampagne, die wir gemacht hatten, ganz schön auf die Schnauze gefallen sind. Das war „gläserne Gesetze“, eine Kampagne, mit der wir die Bundesverwaltung zwingen wollten, all ihre Lobbykontakte offenzulegen. Es war riesig angelegt, letztlich 10.000 Anfragen nach einzelnen Lobbytreffen.

Die Bundesministerien haben uns komplett gegen die Wand fahren lassen. Sie haben sie alle abgelehnt. Wir haben viel geklagt dagegen und sind letztlich nach drei Jahren vor den Verwaltungsgerichten angekommen.

Diese Prozesse sind wahnsinnig lang. Das heißt, da war dann die Luft raus aus dieser Kampagne. Nach drei Jahren kannst du nicht so eine Spannung aufrechterhalten. Dann hat die Bundesverwaltung vor dem Verwaltungsgericht einen ziemlich großen Sieg für sich errungen. Sie konnten nämlich gut nachweisen, dass die Informationen nach Lobbytreffen, also beispielsweise wann sich eine Bundesministerin mit einem Chemieverband getroffen hat, in der Bundesverwaltung nicht strukturiert vorliegen, weil deren Aktensysteme einfach sehr schlecht sind.

Das heißt: Wenn sich die Verwaltung intern misslich organisiert, dann sagen die Verwaltungsgerichte, dass es dann nicht rausgegeben werden kann. Das heißt auch: Diese komplett verkorkste Digitalisierung führt dazu, dass man einfach an Infos nicht rankommt. Und dann fällt so eine Kampagne auch auf die Nase.

Elisa Lindinger: Ihr kämpft ja bei „Frag den Staat“ für die Grundlagen, nämlich Transparenz. Diese Transparenz ist in sich wenig wert, aber sie ermöglicht einen Kampf für Gerechtigkeit, für Einflussnahme, für mehr Mitwirkung, für Verantwortlichkeit. Da haben wir noch einen langen Weg zu gehen, ein wirklich dickes Brett zu bohren.

Arne Semsrott: Ja, und wir haben eine Regierung, die selbst kein Interesse daran hat. Da sind die Grünen hervorzuheben, weil sie als Opposition immer für Transparenz gekämpft haben, auch aus Eigeninteresse, weil die Opposition kaum an Infos rangekommen ist. Jetzt sind sie an der Regierung, haben Zugriff auf die Infos und bringen keinen großen Druck dahinter, diesen ganzen Prozess transparenter zu machen.

Constanze Kurz: Wie bewertest du die Ampel-Regierung, nachdem über die Hälfte der Legislaturperiode nun vorbei ist?

Arne Semsrott: Die Grünen haben wirklich tolle kleine Anfragen gemacht, als sie in der Opposition waren. Sie haben viele Infos an die Öffentlichkeit geholt, gerade auch im NSA-BND-Komplex. Die Leute, die daran im Bundestag gearbeitet haben, arbeiten da immer noch dran. Aber sie stellen keine kleinen Anfragen mehr, sondern sie stellen interne Anfragen an die Bundesregierung. Das läuft jetzt alles im Koalitionsausschuss. Intern kriegen sie die Antworten genauso wie vorher, aber sie werden alle nicht mehr veröffentlicht.

Das heißt: Die Öffentlichkeit ist einfach außen vor, und das stört die Grünen offensichtlich nicht besonders. Mein Eindruck ist: Die Grünen sind wahnsinnig loyal zu dieser Ampel, die geben kaum Infos raus. Leute, mit denen man vorher ordentlich reden konnte, die reden einfach nicht mehr mit einem.

Was Transparenz angeht, gibt es einfach überhaupt keine Veränderung zur vorherigen Regierung. Wenn, dann ist es sogar teilweise schlechter geworden. Denn jetzt ist der Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, der für Olaf Scholz seit zwanzig Jahren sozusagen die Leichen im Keller begräbt. Stichwort wäre beispielsweise der Steuerraub, der durch die Cum-Ex-Files öffentlich wurde. Beim Thema Transparenz ist Schmidt ein gebranntes Kind.

Wir haben beispielsweise eine Klage am Laufen zum Sondervermögen Bundeswehr. Das sind diese 100 Milliarden Euro, die kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine beschlossen wurden. Dazu gibt es offiziell drei Dokumente im Kanzleramt, für so eine Entscheidung, in ein paar Tagen 100 Milliarden Euro freizumachen. Drei Dokumente!

Natürlich haben sie viel ausführlicher darüber gesprochen, aber alles wurde nicht mehr veraktet. Auch in diesem Fall sagt dann das Verwaltungsgericht: Wenn sie Infos nicht gibt, dann können wir auch nichts machen. Und damit kommt dann ein Wolfgang Schmidt und ein Olaf Scholz durch. Das hat Merkel vorher sicher auch gemacht. Aber ich habe den Eindruck, dass es jetzt einfach noch krasser geworden ist.

Constanze Kurz: Es ist ja bekanntes Phänomen, auch in der Merkel-Regierungszeit wurde das kritisiert. Die Frage ist, ob es ein strategisches Prinzip ist. Es betrifft ja nicht nur das Kanzleramt, sondern auch die Ministerien. Was wird überhaupt veraktet? Ihr hattet auch juristische Kämpfe um die Fragen nach SMS- und Messenger-Nachrichten. Es ist ja auch eine Realität, dass die Menschen in der jetzigen Regierung zehn Jahre jünger sind als in der Regierung von Merkel davor. Sie benutzen Smartphones anders. Ganz offenkundig verakten sie weniger. Es ist richtig, dass ihr juristisch hier wenig erreicht habt?

Arne Semsrott: Total. Im Gegenteil würde ich sogar sagen, wir haben ein paar wichtige juristische Sachen verloren, die eine schlechte Praxis dann auch noch legalisiert haben.

SMS-Nachrichten sind ein Beispiel. Konkret hatten wir eine Klage gegen das Auswärtige Amt. Es ging um SMS, jetzt aktuell zur Ukraine und davor vom ehemaligen Minister Heiko Maas zu Afghanistan. Da saßen dann die Beamten im Verwaltungsgericht und haben gesagt: Schauen Sie, technisch ist das gar nicht möglich, mit diesen Geräten SMS zu senden, offensichtlich ist das also nicht passiert. Dann fragt das Verwaltungsgericht: Was ist denn mit eurer internen Anweisung? Dann holen die Beamten die interne Anweisung raus, da steht drin: Man darf keine SMS verschicken. Dann sagen alle: Eine deutsche Verwaltung arbeitet nach Recht und Gesetz.

Und das war’s. Jetzt kommt man an die SMS nicht ran, weil es sie offiziell nicht gibt. Dass alles per SMS gemacht wird oder per Threema oder mit anderen Messengern, das ist klar, auch in einem kleinen Gerichtssaal. Das heißt: Das einzige, was da noch bleibt, sind Leaks.

Die Zukunft von „Frag den Staat“

Elina Eickstädt: Wie verändert sich die Strategie von „Frag den Staat“ angesichts solcher Urteile und Praktiken?

Arne Semsrott: Wir sind nicht mehr nur die Informationsfreiheitsgesetz-Organisation. Die IFG-Anfragen sind inzwischen ein Baustein innerhalb eines Ökosystems von verschiedenen Methoden.

Ich selbst widme mich auch Sachen, die ein bisschen weiter entfernt sind vom Informationsfreiheitsgesetz. Es läuft jetzt gerade ein Strafverfahren gegen mich wegen der Veröffentlichung von Dokumenten in Bezug auf die „Letzte Generation“. Die Dokumente stammen aus laufenden Strafverfahren. Das eine Straftat und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden.

Das hat natürlich mit dem Informationsfreiheitsgesetz nichts mehr zu tun, aber immer mit dem breiten Komplex des Zugangs zu Informationen. Es ist in dem Fall ein strategisches Mittel, sich verklagen lassen und zu schauen, was ein Strafverfahren an Klärung bringen kann. Im Idealfall führt dieses Verfahren dazu, dass die zugrundeliegende Norm im Strafgesetzbuch für verfassungswidrig erklärt wird. Was aber auf jeden Fall schon passiert ist: Wir haben eine Fachdiskussion. Die Strafnorm im Strafgesetzbuch ist Grütze, da sind sich schon mal alle einig.

Arne Semsrott von FragDenStaat angeklagt wegen Veröffentlichung von Gerichtsdokumenten

Constanze Kurz: Ein anderer Baustein von dem, was du gerade als Ökosystem beschrieben hast, ist das öffentliche Berichten. Ihr schreibt im Blog anders, nämlich deutlich journalistischer. Ihr schreibt trotzdem immer noch wertend. Ihr bemüht euch nicht, aufgesetzt sachlich zu klingen, sondern man merkt, wenn ihr eine Entscheidung falsch oder eine politische Richtung nicht korrekt findet. Ihr drückt das deutlich aus. Ihr wirkt dabei dennoch auf eine starke Weise professionalisiert. Hängt das an den Menschen, die neu dazukamen, oder ist das absichtlicher Teil der Weiterentwicklung der Plattform?

Arne Semsrott: Wir haben viel gelernt von netzpolitik.org.

Constanze Kurz: Ihr macht auch viele Medien-Kooperationen, richtig?

Arne Semsrott: Wir versuchen tatsächlich alles, was wir machen, immer als Kooperation mit anderen Medien zu machen. Das hat zwei Wirkungen. Das eine ist, dass wir versuchen, die anderen Medien damit zu infiltrieren, also mit unserer Art zu arbeiten. Das funktioniert auch ziemlich gut. Nach einer Recherche, wenn sie denn gut war, stellen sie vielleicht selbst IFG-Anfragen und wollen selbst ähnlich transparent arbeiten, wie sie es vorher mit uns gemacht haben. Das andere ist, dass wir natürlich eine Reichweite in Zielgruppen bekommen, die wir sonst nicht bekommen. In der netzpolitischen Bubble sind wir stark, das kommt aus der Geschichte von „Frag den Staat“. Aber in andere Communitys zu kommen, wo man vielleicht vom Informationsfreiheitsgesetz und von „Frag den Staat“ noch nichts gehört hat, das versuchen wir über solche Kooperationen.

Das gleiche gilt auch für unsere Kampagnen. Das versuchen wir immer mit anderen NGOs zusammen zu machen oder mit anderen sozialen Bewegungen, um einfach andere Gruppen zu erreichen und nicht nur in unserem eigenen Saft zu schmoren.

Ich meine, dass so eine Professionalisierung auch einfach mit einer gewissen Größe kommt. Wir sind jetzt zwanzig Leute, das ist schon eine ganze Menge. Dadurch können wir auch eine größere Breite an Themen bespielen.

Abertausende Anfragen

Constanze Kurz: Sag mal ein paar Zahlen. Wieviele Leute engagieren sich auf der Plattform? Wieviele IFG-Anfragen und wieviele Antworten gibt es? Wieviele positive Antworten sind darunter?

Arne Semsrott: Über „Frag den Staat“ sind in den letzten zwölf, dreizehn Jahren 260.000 Anfragen von knapp 120.000 Usern gestellt worden. Wir haben natürlich ein paar Power-User, aber in der Regel stellen die Leute zwei, drei Anfragen. Vieles hat einen persönlichen Bezug: Die Leute haben Interesse an einer Verkehrskreuzung oder einer Kita, die neu gebaut wird. Viele Anfragen sind erfolgreich, tatsächlich die meisten. Denn die meisten sind gar nicht brisant, sondern verlaufen im Kommunalen und bringen den Leuten auch wirklich, was sie wissen wollen.

Was man öffentlich mitbekommt, sind natürlich die brisanten Fälle. Da ist ohnehin klar, dass die Verwaltung etwas nicht rausgeben will. Ein Beispiel ist die Anfrage zur Bundeswehr und den 100 Milliarden Euro. Wenn ich so eine Anfrage stelle, weiß vorher schon: Das geht vor Gericht, das geben die nicht freiwillig raus. Bei diesen brisanten Fällen muss man in der Regel klagen.

Wir gewinnen auch die meisten Fälle vor Gericht. Eine häufige Konstellation ist auch, dass wir klagen und die Behörde dann merkt: Okay, er meint es ernst, dann geben sie die Akten raus. Es braucht dann gar nicht erst eine Verhandlung. Die meisten Sachen in erster Instanz, also beim Verwaltungsgericht, gewinnen wir.

Die ganz großen Fälle, die du vorher angesprochen hattest, also etwa um die SMS-Nachrichten und solche großen strategischen Fälle, wo wir durch alle Instanzen gehen und die dann in Leipzig beim Bundesverwaltungsgericht landen, die verlieren wir fast alle. Da sitzen aber auch die konservativsten Richter.

Constanze Kurz: Hast du nicht im Blog sogar ultrakonservativ geschrieben?

Arne Semsrott: Man kann ja mal den Präsidenten vom Bundesverwaltungsgericht in eine Suchmaschine eingeben und sich anschauen, in was für einer Burschenschaft er ist. Und das kann man mit anderen Richtern dort auch machen. Es ist tatsächlich gerade dieser zehnte Senat des Bundesverwaltungsgerichts, der Präsidenten-Senat, der zuständig für Informationsfreiheit ist. Der hat sich vor kurzem noch ein paar Zuständigkeiten dazugeholt.

Es gab in diesem Informationsfreiheitsbereich lange die Konstellation, dass der zehnte Senat, der zuständig war, immer sehr konservativ geurteilt hat: immer alles gegen die Informationsfreiheit. Aber der sechste Senat hat in Informationsfreiheitsachen sehr progressiv geurteilt hatte. Der sechste Senat war für den BND zuständig, er war damit auch zuständig für Presse- und Informationsfreiheit im BND-Kontext. Findige Journalistinnen haben, wenn sie eine Sache geklärt haben wollten, gegen den BND geklagt. Hier bist du in erster Instanz beim Bundesverwaltungsgericht, denn die niederen Verwaltungsgerichte dürfen nicht an den BND ran.

Wenn man also gegen den BND klagt, ist man direkt in Leipzig. Wenn man irgendeine Konstellation geklärt haben wollte, hat man also gegen den BND geklagt und ist dann beim progressiven sechsten Senat nicht beim konservativen zehnten Senat gelandet. Im Vergleich zum zehnten urteilte der sechste Senat oft so, dass mehr rausgegeben werden musste. Das hat den zweiten Senat so gestört, dass sie sich jetzt die Presse- und Informationsfreiheit in BND-Sachen rübergeholt hat. Das heißt auch: Die BND-Klage, die wir am 7. November verhandelt wird, kommt dann vor den zehnten Senat, also vor den Präsidenten-Senat. Wir gehen davon aus, dass die alles zurückdrehen, was vorher geurteilt wurde.

Nachhaltige Erfolge

Elina Eickstädt: Mich sprechen oft Menschen an, weil ich viel politische Arbeit machen. Sie fragen: Was können wir eigentlich machen? Was ist die Einstiegsdroge für politische Arbeit aus deiner Sicht?

Arne Semsrott: Tatsächlich glaube ich, IFG-Anfragen zu stellen, das mal auszuprobieren und so Kontakt zur Staatsmacht aufzubauen, ist eine gute Übung, um ein bisschen die Angst davor zu verlieren. Das habe ich an mir gemerkt: Am Anfang war ich unsicher im Umgang mit Behörden. Es kommen als Antwort Briefe in gelben Umschlägen, die man sonst nur kennt, wenn man was zahlen muss oder was falsch gemacht hat. Aber zu merken, ich hab ein Recht denen gegenüber und das kann ich versuchen durchzusetzen, das ist eine ganz gute Übung. Ich glaube, dass IFG-Anfragen tatsächlich eine gute Einstiegsdroge sein können in ein politisches Engagement.

Constanze Kurz: Ich muss dir noch eine Frage stellen: Rückblickend auf die letzten zehn Jahre, worauf bist du im Nachhinein wirklich stolz, was war ein besonders nachhaltiger Erfolg?

Arne Semsrott: Es gibt ein paar Praktiken, die jetzt ganz normal geworden sind: Inzwischen ist es total normal, dass die Bundesministerien die Referentenentwürfe, also die ursprünglichen Entwürfe von Gesetzen, veröffentlichen. Das war 150 Jahre lang nicht so.

Das ist ja ein deutsches Spezifikum: In Deutschland macht ein Ministerium diesen Referentenentwurf. Er war lange nicht online zu finden, bis wir dazu eine Kampagne gemacht hatten. Das ist tatsächlich wichtig, um den Gesetzgebungsprozess besser nachvollziehen zu können. Der demokratische Prozess ist jetzt transparenter.

Aber ich würde als zweites Beispiel auch sagen: Vor drei Jahren ist Franziska Giffey als Bundesministerin zurückgetreten. Ehemals nannte sie sich Dr. Franziska Giffey, jetzt nur noch Franziska Giffey. Sie ist zurückgetreten als Bundesministerin, weil herausgekommen ist, dass sie plagiiert hat. Und dass es rausgekommen ist, liegt an einer IFG-Anfrage.

Elina Eickstädt: Vielleicht enden wir auf dieser positiven Note: Man kann unliebsame Politikerinnen auch mit IFG-Anfragen loswerden. Vielen Dank für das Gespräch, Arne!


Das Gespräch ist eine gekürzte Version des Podcasts „Dicke Bretter“. Er erscheint beim Chaosradio.


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